SPIEGEL ONLINE - 03. Oktober 2005, 09:37
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,377585,00.html
15 Jahre Einheit
Die deutsche
Denkfaulheit
Von Claus Christian Malzahn
Vor 15 Jahren verschwand die DDR von der politischen Landkarte. Kaum ein
Experte oder Politiker hatte das Ende der Teilung vorhergesehen. Die Deutschen
sind seitdem klüger geworden - doch die politische Elite in Berlin ist so
phantasielos wie eh und je.
Berlin - Wer sich an die achtziger Jahre erinnert, hat sie angeblich nicht
erlebt. Manche möchten sich vielleicht auch gar nicht erinnern. Denn vor weniger
als 20 Jahren war die Teilung Deutschlands eine politische Realität, die man für
unabänderlich hielt.
Dass 16 Millionen Menschen in der DDR Meinungs- und
Reisefreiheit vorenthalten wurden, dass sie ihr Leben riskierten, wenn sie von
Ost- nach West-Deutschland wollten, dass die Würde des Menschen zwischen Kap
Arkona und dem Erzgebirge durchaus antastbar war - all das galt in der alten
Bundesrepublik zwar als bedauerlich. Doch nicht nur die Enkel-Generation in der
SPD im Westen interpretierte die im Grundgesetz verankerte Vision der Einheit
der Nation als lästigen, der Realpolitik hinderlichen Anachronismus.
 |
DPA
Berliner Mauer, 1984: Wer an die
Wiedervereinigung glaubte, galt als Reaktionär oder
Phantast |
Auch die damaligen
Regierungsparteien CDU/CSU und FDP waren nicht imstande, die inzwischen saft-
und kraftlos gewordene Politik der "Entspannung" neu zu definieren und endlich
auch die Oppositionellen und Bürgerrechtler zu anerkannten Partnern im
deutsch-deutschen Dialog zu machen. Die von Willy Brandt vollkommen zu Recht in
den Siebzigern gegen die Union durchgesetzte Anerkennungspolitik der DDR war in
den späten Achtzigern falsch geworden - weil sie zu einer weichen Chiffre für
die politische Legitimation des SED-Regimes zu werden drohte.
Als der
SED-Chef Erich Honecker 1987 auf dem Bonner Flughafen aus der Interflug-Maschine
stieg, spielte die Bundeswehrkapelle die Melodie von "Auferstanden aus Ruinen",
Bundeskanzler Helmut Kohl gab seinem Staatsgast (etwas widerwillig) die Hand -
und der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine empfahl sich dem
ostdeutschen Despoten als Reiseführer durch dessen alte Heimat. Denn Honecker
war eigentlich ein Wessi, 1912 geboren in Neunkirchen an der Saar. Wer damals
von der Wiedervereinigung sprach, galt als Reaktionär oder Phantast. In
Deutschland hielt man die herrschende, zweigeteilte Lage überwiegend für die
einzig denkbare; ein Geisteszustand, an dem sich bis heute im Grunde nichts
geändert hat.
Die Zukunft liegt quer
Denn so wie es
aussieht, werden auch die nächsten vier Jahre wieder den Denkfaulen gehören. Die
politische Elite der Republik hat sich nach dem verwirrenden Wahlergebnis vom
18. September offenbar auf die einfachste und hilfloseste Lösung verständigt:
die Bildung einer Großen Koalition. Damit beweist die Politik in Deutschland
erneut, dass sie die Zeichen der Zeit entweder nicht verstanden hat - oder sich
vor den Notwendigkeiten wegduckt. Denn die noch vom Kalten Krieg geprägte Ära,
in der sich politische Machtblöcke von rechts und links gegenüberstanden, ist
seit 15 Jahren im Grunde gegenstandslos.
Nun wurde diese politische
Veränderung auch im Wahlergebnis sichtbar: Weder für eine flotte schwarz-gelbe
Wende noch für ein rot-grünes Projekt gab es eine Mehrheit. Die Zukunft der
Republik liegt in, auf pragmatischer und vernünftiger Grundlage gebildeten,
politischen Querverbindungen. Heute geht es nicht mehr um rechts und links,
sondern um modern und rückwärtsgewandt. Doch vor allem die kleinen Parteien,
namentlich die Grünen und die Liberalen, weigern sich aus verschiedenen Gründen,
das anzuerkennen. Die FDP kalkuliert, dass man bald über ihre Beliebigkeit
hinweg sieht, wenn sie sich standhaft einer Ampel verweigert. Die CSU bekreuzigt
sich schon bei dem Gedanken an eine Koalition mit den Grünen - obwohl man heute
auch in deren vorderen Reihen mehr Kirchensteuerzahler finden wird, als manch
Konservativer glauben mag.
Und die Partei, die man vor kurzem noch
Fischer-Partei nannte, kennt ihren neuen Spitznamen noch nicht und scheut den
Schritt in die Schwampel aus Angst vor der rot-grün geeichten Basis. Der Preis
für die Feigheit der Kleinen und die sture Attitüde der Großen sind vermutlich
vier verlorene Jahre für die Bundesrepublik. Denn die große Koalition wird das
Land bloß verwalten, ein bisschen regieren - aber nicht nach vorn bringen.
Politik kann sich nämlich gründlich irren. Wenn die Ostdeutschen im
Herbst 1989 auf die Herrschenden in Bonn und Ost-Berlin gehört hätten, wäre die
Mauer vielleicht nie gefallen. Selten wurden Regierungspolitik und
Expertenvorlagen so blamiert wie während der friedlichen Revolution in der DDR.
Die Demonstrationen im Oktober und November 1989 gehören zu den Sternstunden der
deutschen Geschichte, weil sich hier endlich jener demokratische Bürgermut
artikulierte, den man im grausamen 20. Jahrhundert zuvor oft genug vermisst
hatte. Die offizielle Politik allein hätte diese gewaltigen Veränderungen nicht
zuwege gebracht. Das der Einzelne einen Unterschied machen kann, ist wohl die
wichtigste Erfahrung der friedlichen Revolution.
Die Einheit ist
besser als ihr Ruf
Diese Erfahrung gerät heute mehr und mehr in
Vergessenheit. Dabei ist der Zustand der deutschen Einheit viel besser als sein
Ruf. Die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR halten 91 Prozent der
Ostdeutschen und 82 Prozent der Westdeutschen für positiv. Gejammert wird vor
allem im Westen: 15 Prozent der alten Bundesbürger und 8 Prozent der
Ostdeutschen sind mit der Wiedervereinigung unzufrieden, ergab jetzt eine
Umfrage für das ZDF-"Politbarometer". Nur 6 Prozent der Deutschen wollen zurück
zur Zweistaatlichkeit, vergangenes Jahr waren es noch 10 Prozent. Die Lage
entspannt sich also, obwohl wir in diesen Tagen vor allem wieder in den
repräsentativ zusammengesetzten Talkshows zu hören bekommen, die
Wiedervereinigung sei gescheitert. Diejenigen, die das erklären, waren sich vor
20 Jahren übrigens auch ganz sicher, die Wiedervereinigung sei eine
Lebenslüge.
 |
Claus Christian Malzahn veröffentlichte jetzt
das Buch "Deutschland, Deutschland. Kurze Geschichte einer geteilten
Nation." Es ist bei DTV erschienen und kostet 14
Euro. |
Schon in den neunziger Jahren
brachte die soziologische Feldforschung im Osten andere Ergebnisse zutage als
die behauptete öffentliche Medienmeinung. 80 bis 90 Prozent der Ostdeutschen
waren mit ihrer persönlichen Situation meist zufrieden oder sehr zufrieden und
hielten sie für eine klare Verbesserung gegenüber ihrem Leben in der DDR. Die
allgemeine politische und wirtschaftliche Situation hielten dieselben Leute
dagegen für bedenklich bis gefährlich. In der DDR gab es eine Schere im Kopf, im
neuen Deutschland klaffte die individuelle Wahrnehmung offenbar wie eine Schere
auseinander.
Das erklärt vielleicht auch, warum die DDR heute oft
"gefährlich verharmlost" wird, wie die ehemalige Bürgerrechtlerin Marianne
Birthler vor kurzem erklärte. Nicht nur diese scharfsinnige Analytikerin
deutsch-deutscher Befindlichkeiten beklagt ein merkwürdiges Phänomen: je länger
der von Walter Ulbricht gegründete und von Erich Honecker gegen die Wand
gefahrene Staat zurückliegt, desto stärker scheint er im Bewusstsein vieler
Deutscher jene Konturen der "kommoden Diktatur" anzunehmen, die Günter Grass dem
realen Sozialismus auf deutschem Boden einst in einem Nachwende-Roman
angedichtet hat. Wer sich nicht angelegt habe mit den Mächtigen, der hätte in
der DDR doch ganz gut leben können, summt heute der Stammtisch - die Melodie
dazu hat die PDS komponiert.
Der Untertan ist das Ziel jeder Diktatur
Doch das Endziel totalitärer Herrschaft ist selten der permanente
Bürgerkrieg, sondern der willfährige Untertan. Wer im August 1989 aber auf dem
Ost-Berliner Alexanderplatz mit Zitaten von Rosa Luxemburg für mehr Offenheit im
realen Sozialismus demonstrierte, der wurde nicht etwa zur Diskussion gebeten,
sondern in den Knast geschickt. Die Frage, ob das SED-Regime sich dem Druck des
Volkes auch mit massivem militärischem Einsatz widersetzen würde, war im Sommer
1989 unter den Genossen keineswegs zugunsten eines geordneten Rückzugs
entschieden. Zunächst setzte die SED auch im Herbst noch auf den Schlagstock,
zum Runden Tisch luden die Genossen erst, als feststand, dass die DDR politisch
und wirtschaftlich nicht mehr zu retten war.
Trotzdem gibt es keinen
Grund, sich das neue Deutschland schöner zu reden, als es ist. Die
Arbeitslosigkeit im Osten ist viel zu hoch - nicht wegen verbreiteter Faulheit,
sondern weil es zu wenig Industriezonen gibt. Die Land- und Stadtflucht gen
Westen ist deshalb nicht gestoppt, der Milliardentransfer in die Kassen der
ostdeutschen Länder wird dauern. Während in Westdeutschland lediglich regionale
wirtschaftliche Problemzonen wie im Ruhrgebiet, der Oberpfalz und Ostfriesland
existieren, ist Ostdeutschland insgesamt noch immer eine fragile ökonomische
Zone, aus der nur ein paar positive Standorte herauszuragen scheinen wie
Leipzig, Jena, Weimar oder die touristischen Zentren an der Ostseeküste.
Aber wen wundert das? Die DDR stand seit 1988 vor der
Zahlungsunfähigkeit. Wäre sie ein Unternehmen gewesen, hätte sie Bankrott
anmelden müssen. Stattdessen wurde die DDR faktisch vom Westen übernommen. Der
bisherige Vereinigungsverlauf zielte bisher vor allem auf die Herstellung
demokratischer, republikanischer Verhältnisse in den neuen Ländern - und auf die
Entwicklung einer tragfähigen wirtschaftlichen Grundlage. Dieser Prozess ist
noch im Gange. Aber verglichen mit der postsozialistischen Entwicklung
ehemaliger RGW-Staaten wie Polen, Bulgarien oder Rumänien steht die ehemalige
DDR inzwischen tatsächlich da, wo Honecker sie immer hinhaben wollte: An der
Weltspitze nämlich - und das trotz einer kontinuierlichen Abwanderungs- und
Fluchtbewegung, die 1945 mit dem Auftauchen der Roten Armee einsetzte und die
bis heute nicht abgerissen ist.
Abstimmung mit den Füßen
Über die Lebenswirklichkeit im Osten Deutschlands wird heute vor
allem mit den Füßen abgestimmt. Wir erleben in manchen Gegenden eine Migration
im eigenen Land. Ganze Landstriche im Osten veröden. Äußerlich scheint meist
alles in Ordnung: Die Straßen sind frisch geteert, die Häuser neu getüncht, der
Marktplatz wurde mit freundlicher Unterstützung der EU auf Hochglanz poliert.
Doch hinter der glänzenden Fassade packt gerade wieder jemand seine Koffer. Fast
eine Million Menschen haben Ostdeutschland seit 1990 verlassen - Richtung Westen
natürlich. In vielen Regionen vollzieht sich in aller Stille ein
Bevölkerungsaustausch. So wanderten in Mecklenburg schon ganze Dorfschaften ab.
Die Häuser blieben stehen - und dienen nun gestressten Berlinern als
Freizeitdomizil. Das gab es übrigens schon öfter in Europa: Zum Beispiel in der
Toskana. Man glaubt es kaum, aber bevor die Professoren und Alt-68er aus
Deutschland kamen, haben dort tatsächlich italienische Bauern gelebt.
 |
DPA
Mauerfall 1989 am Branderburger Tor: Das Ende
der DDR war der Anfang des Neuen
Deutschlands. |
Der in Westdeutschland
gern erhobene Vorwurf, die Ostdeutschen seien zu unflexibel, ist deshalb
grotesk. Wer heute durch München spaziert, hört dort öfter Sächsisch als in
Berlin. 1989 gewannen die Ostdeutschen auch die Freiheit, sich vom heimischen
Acker zu machen. 15 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es höchste Zeit, sich
einzugestehen, dass dieser Prozess fürs Erste unumkehrbar ist. Am Ziel
gleichartiger Lebensverhältnisse muss das nichts ändern. Aber die Menschen
interessieren sich nicht für Zielvorgaben, sondern für individuelle
Zukunftschancen.
Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik bei.
So mancher im Westen dachte damals, die BRD sei nun einfach ein bisschen größer
geworden. So mancher im Osten glaubte fest, die westliche Ikea- und
Fußgängerzonenrepublik würde über Nacht auch bei ihm zu Hause Wirklichkeit.
Beide Annahmen waren nicht ganz falsch, aber richtig beschreiben sie die heutige
Wirklichkeit natürlich auch nicht. Wir leben heute in einem Neuen Deutschland.
Das Land ist noch immer auf dem Sprung. Keiner weiß, wie es sich in den nächsten
15 Jahren verändern wird. Aber alle wissen, dass es sich verändern muss.
© SPIEGEL ONLINE 2005
Alle Rechte
vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH
Zum Thema:
Zum Thema in SPIEGEL ONLINE: |
|
|