Wahrheit ist oft wehrlos. Sie kann zur
Relativierung missbraucht werden, zur Aufrechnung und Vertuschung.
Sie auszuhalten, ist anstrengend. Es war ein Verbrechen, Atombomben
über Hiroshima und Nagasaki abzuwerfen. Es war ein Verbrechen, die
Zivilbevölkerung von Dresden zu bombardieren. Absichtlich Tausende
von unschuldigen Menschen zu töten, ist unmoralisch. Solche Sätze
können missverstanden werden. Die NPD geht mit ihnen hausieren.
Antiamerikaner und Leugner der deutschen Kriegsschuld ergötzen sich
an ihnen. Soll man sie daher unterlassen? Die Alliierten haben einen
gerechten Krieg geführt. Deutschland und Japan, die Europa und Asien
mit Terror überzogen, mussten besiegt werden. Aber ebenso, wie nicht
alle Wehrmachtssoldaten aus Niedertracht handelten, waren nicht alle
Maßnahmen ihrer Gegner angemessen.
Wahrheit ist oft
kompliziert. Der Gute muss immer gut, der Böse immer böse sein.
Differenzierungen verwirren. Am 8. Mai jährt sich zum 60. Mal das
Ende des Zweiten Weltkrieges. Er war von Deutschen angezettelt
worden, das Hitler-Regime und seine Helfershelfer brachten Millionen
Menschen um. Die Alliierten befreiten die KZ-Insassen, die
unterjochten Völker und die Deutschen selbst. Dafür gebührt ihnen
Dank.
Die
Feiern zu diesem Jubiläum finden in Moskau statt. Auf dem Roten
Platz paradieren die Nachfolgeverbände der Roten Armee, im
Hintergrund werden Stalin-Statuen zu sehen sein. Für manche Völker
jenseits des Eisernen Vorhangs war mit dem Sieg über den
Nationalsozialismus der Übergang in eine andere, die kommunistische
Diktatur verbunden. Das schuf neues Leid. Die Veteranen der Roten
Armee waren Opfer, Sieger, Befreier und Täter zugleich. Nur im
Westen zogen ab 1945 Freiheit und Demokratie ein. Nur im Westen
lässt sich der 8. Mai ausschließlich als jener Tag begreifen, an dem
Terror und Unterdrückung endeten. Im Osten dagegen litten viele
Menschen ein halbes Jahrhundert lang weiter. Das Baltikum wurde von
den Sowjets besetzt. Doch auch die Balten haben ihre dunkle
Vergangenheit. Hitler fand unter ihnen willige Kollaborateure. Es
ist richtig, die Jubelfeiern in Moskau selbstbewusst zu kritisieren.
Es wäre falsch, in Selbstgerechtigkeit zu verfallen.
Der
Bundeskanzler fährt nach Moskau, ebenso der US-Präsident. George W.
Bush indes muss beim Gedanken an die Zeremonie mulmig geworden sein.
Er will in den Jubel über Stalin und die Rote Armee nicht
ungebrochen einstimmen. Deshalb setzt er einen Kontrapunkt. Vor der
Feier trifft er sich in Lettland demonstrativ mit den drei
baltischen Präsidenten. Möglich ist auch, dass er in Moskau einen
Kranz niederlegt, um die Gulag-Opfer zu ehren. Und im amerikanischen
Kongress zirkuliert eine Resolution, in der Russlands Führung
aufgefordert wird, nachträglich den Hitler-Stalin-Pakt zu
verurteilen. Sicher, das sind bloß Gesten. Aber die öffentliche
Erinnerung besteht aus nichts anderem.
Gerhard Schröder
wandelt auf dünnem Eis. Er darf nichts tun, was den Eindruck
erwecken könnte, die Hitler-Verbrechen relativieren zu wollen. Aber
er ist auch der Kanzler jener Deutschen, die unter dem verlängerten
Arm Stalins litten. In einzigartiger Weise repräsentiert er das Erbe
von zwei Diktaturen. Schröder rühmt sich gerne seiner Freundschaft
zu Wladimir Putin. Ein Freund verträgt ein offenes Wort.